SCHALEN

 

SCHALEN 2005/2006 Ton/Hanfseil Raku - Brand

Gerd Reutters Arbeiten zeichnen sich grundsätzlich durch einen architektonischen Charakter aus. Dies trifft auch auf seine jüngsten Werke zu, die darüber hinaus zum Teil neue überraschende Aspekte zu bieten haben. Wenngleich Reutters Plastiken unbetitelt sind und der Künstler dem Betrachter damit bewusst einen Freiraum der Deutung und Auslegung zugesteht, gibt er mit den in Klammer gesetzten Bezeichnungen eine Richtung vor: die Arbeiten sind als Kammern bezeichnet. Kammer meint einen kleinen Raum, einen Wohnraum etwa oder auch einen Hohlraum im organischen oder naturwissenschaftlichen Bereich. Mit dem Untertitel nimmt Reutter aber auch Bezug auf die spezifische Ausstellungssituation, auf den konkreten Ausstellungsort, den Keller des Wasserturms mit seinen Kammern.
Zwei der Arbeiten, "Kammer II" und "Kammer VI", sind nicht nur als räumliche Formulierung zu deuten, sie haben vielmehr Gefäßcharakter, sind zu verstehen als Behälter, die etwas aufnehmen können. Gefäße entstehen, wenn ein Hohlraum umschlossen wird, es entsteht ein innen und außen, definiert durch eine Form, die der Bildhauer mit seinen Händen gestaltet. Sie verdrängen Raum und schaffen ihn gleichzeitig. Gefäße dienen dem alltäglichen Gebrauch, zum Nehmen, zum Geben oder zum Verwahren. Sie sind zunächst leer und warten auf Füllung. Sie sind existenziell notwendige Objekte, die es seit Menschengedenken in sich wandelnden Formvarianten gibt. Gerd Reutters Schalen der vierteiligen Arbeit "Kammer II" sind extrem dickwandig, sie sind flach und haben weder einen regelmäßigen Umriss noch eine gleichmäßige Wölbung. Dadurch wirken sie einerseits archaisch, andererseits lebendig. Sie sind offen und damit kommunikativ, sie verschließen weniger als sie offenbaren. Diese Eigenschaften sind auch die Erklärung dafür, dass Schalen häufig sakralen und rituellen Charakter besitzen. Reutters Schalen sind sehr groß, zu groß und schwer als dass sie ein Benutzer mit beiden Händen anheben könnte, um daraus zu trinken. Sie haben vielmehr symbolischen Charakter. Drei der Schalen hängen an Hanfseilen von der Decke herab, während eine auf einem Sockel steht. Sie sind derart angeordnet, dass die Vorstellung entsteht, imaginäre Tropfen könnten von oben kaskadenartig in die Schalen tropfen und sich schließlich in der horizontal stehenden sammeln. Die Vorstellung fließenden Wassers wird gesteigert durch die blau zerlaufenden Glasuren. So ist der dynamische Gedanke des Fließens nicht nur im besonderen Arrangement der Schalen gegeben, sondern auch in der formalen Gestaltung.


WASSER FÜR ALLE 2005/06 Ton/Stahl Raku-Brand

Das Motiv des Wassers als lebenspendendes, existenzielles Elixier, das als Grundelement die Voraussetzung für menschliches und naturhaftes Sein bildet, ist in der Lebens-, aber auch der Traumwelt des Menschen von großer Bedeutung. Wasser ist nach Erich Fromm ein universales Symbol, das durch seine Mischung von ständiger Bewegung und gleichzeitiger Beständigkeit gekennzeichnet ist. Wie Feuer kann auch das Wasser positiv und negativ besetzt sein. Das Wasser nährt und lässt gedeihen, kann aber auch zerstören und verschlingen. Es kann zu einer äußerst destruktiven Macht werden, der der Mensch ausgeliefert ist, wenn es vom Sturm aufgepeitscht wird oder wenn ein angeschwollener Fluss über die Ufer tritt. Es kann symbolisch Grauen und Chaos und andererseits Trost und Frieden bedeuten. Das Betrachten des fließenden Wassers, das stetige Rauschen der Wellen wirkt äußerst beruhigend. Das Schwimmen im Wasser, das schwerelose Gleiten gehört zu den befreiendsten Fähigkeiten des Menschen. Reutter hat bei der Formulierung dieses symbolisch aufgeladenen Themas technisch Neuland beschritten. Erstmals hat er hier die Raku-Technik angewandt und mit farbigen Glasuren experimentiert. Und so besteht gerade der besondere Reiz der Objekte in den Eigenheiten der Raku-Technik: im unruhigen dunklen Krakelee, das mit der blauen, dickflüssig verlaufenden Glasur korrespondiert. Entgegen dem herkömmlich Verfahren Keramik zu brennen (langsames Abkühlen im geschlossenen Ofen), wird Raku-Keramik, die ihren Ursprung im ZEN-Buddismus Japans des 16. Jahrhunderts hat, wegen der starken Rauchentwicklung meist im Freien gebrannt. Bei diesem Niedrigbrand werden die rot glühenden Gefäße dem Ofen bei Temperaturen um 1000° C einzeln entnommen und in organischem Brennstoff (Laub, Stroh, Heu, etc.) luftdicht eingebettet. Der entstehende Rauch (Kohlenstoff), der Sauerstoffentzug sowie die im Laub enthaltenen Mineralien wirken auf den Tonscherben und die Glasurfarbe ein. Der Kohlenstoff färbt dabei nicht glasierte Stellen und das Krakelee schwarz. Durch die enormen Temperaturschwankungen wird das Objekt extrem belastet und nur durch sorgfältiges und exaktes Verarbeiten ist gewährleistet, dass die Stücke fehlerfrei sind. Durch die vielen, nicht von außen steuerbaren Einflüsse ist jedes Stück einmalig. Da die Gefäße durch die Brennweise kräftige Temperaturschocks unbeschadet überstehen müssen, ist Raku-Ton üblicherweise meistens sehr grob. Dem Ehrgeiz des Keramikers, möglichst dünn zu arbeiten, sind beim Raku Grenzen gesetzt: Über je mehr Masse und je weniger Angriffsfläche für Temperaturunterschiede ein Objekt verfügt, desto größer die Chance, dass es die Brennprozedur unbeschadet übersteht.

Auch die andere Arbeit Reutters ("Kammer VI") ist in Raku-Technik gefertigt und auch sie besticht durch ihre lebendige Oberfläche. Neben dem unregelmäßigen Krakelee ist es die von Blau über Rot bis Grün reichende Farbigkeit der Glasur, die den Eindruck bestimmt. So offen die zuerst beschriebenen Schalen sind, so verschlossen präsentiert sich dieses Werk. Die Form des Gefäßes ist denkbar einfach und grob ausgestaltet. Es sind drei sich nach unten verjüngende Flächen, die aneinander gefügt einen kannenartigen Behälter auf dreieckiger Grundfläche ergeben. Dieses hermetische Gefäß, dass man als solches nicht sofort erkennt, ist auf besondere Weise geschützt, wobei die Frage offen bleibt, ob das Gefäß an sich zu schützen ist oder dessen Inhalt. Umgeben von einem Stahlkäfig, lässt es sich nicht benutzen. Reutter spielt hier auf die Kostbarkeit des Wassers an. So elementar es ist, so ist es doch nicht für jeden Menschen gleichermaßen zugänglich und nutzbar. In manchen Erdteilen ist es Mangelware, während es in ande en durch Verschmutzung bedroht ist. Durch die formale Gestaltung erhält das Arrangement sakralen Charakter, es wirkt wie ein kostbarer, schützenswerter Reliquienschrein, der zur Schau gestellt wird. Andererseits wohnt dem Arrangement auch ein dezidiert martialischer Aspekt inne: die metallene Ummantelung, die nirgendwo eine Öffnungsmöglichkeit bietet, stellt ein Gefängnis dar. Auch ein Gefäß kann ein Gefängnis sein oder etwa, wie die Büchse der Pandora, Unheil bringen. Gerd Reutters Arbeiten sind keine Gefäße im üblichen Sinne, es sind Skulpturen, die Raum schaffen, Raum verdrängen, den Betrachter visuell, körperlich und gedanklich aktivieren und damit existenzielle Fragen aufwerfen.
Inge Herold, 8.1.2007