| Und da ich nicht glaube, daß die von mir geleistete Arbeit in Zukunft
für die Gesellschaft irgendwie von Bedeutung sein wird, habe ich, wenn
Sie so wollen, beschlossen, mein Leben zu meiner Kunst zu machen - und
die Kunst zu leben, zu praktizieren. Jede gelebte Sekunde, jeder
Atemzug ist ein Kunstwerk, das nirgendwo seinen Ausdruck findet, weder
visuell noch zelebral erkennbar ist, daß vielmehr eine Art
unausgesetzten Hochgefühls darstellt. (Marcel Duchamps, Gespräche mit
P. Cabanne)
Marcel Duchamp zog das Schachspiel zeitlebens der Kunst vor: als
Terrain uferloser gedanklicher Möglichkeiten, als Form stiller
Meditation, als Übung für den geduldigen Geist auf dem Weg zu neuen
Entdeckungen. Das Schachspiel findet in aller Ruhe statt, entrückt in
einer Welt der Abstraktionen und Strenge. Seine Erfahrungen spielen
größtenteils im Kopf, im Bereich der Vorstellungskraft, und sie machen
den denkenden Menschen zum Maß der Dinge. So war auch die Kunst
Duchamps grundsätzlich intellektuell geprägt: in der Ausrichtung ihres
Prinzips künstlerischer Suche und Innovation, und in der angestrebten
Erweiterung der Kreise unserer Wahrnehmung im verschlungenen Feld von
Kunst und Alltag. Darin wurde Duchamp zum Meister und Mythos der
Avantgarde, Vorbild und Scharlatan, in jedem Fall aber jemand, der
stets am Rande des großen Kunstgeschehens blieb - bis heute. Der
Kölner Künstler Axel Brand besitzt eine Fotografie Duchamps, die den
Künstler beim Schachspiel zeigt, mit einer nackten sitzenden Frau, das
berühmte Pissoir auf einem Tisch in der Nähe, Duchamp dabei in
stehender Pose, bekleidet, in männlicher Unnahbarkeit. Brand hat
dieses Motiv fotografisch erneut aufgegriffen, indem er zunächst das
Ungleichgewicht im Geschlechterverhältnis verwandelt: beide , Mann und
Frau, sind nunmehr nackt. Die Kopflastigkeit in Duchamps Ansatz ist
unumstritten; der körperliche Zug unserer Erfahrungen kommt in seinen
Werken nur uninteressant und nebensächlich vor. So sind die sperrige
Gier des Körpers, seine verletzliche Nacktheit und tölpelhafte
Unbeholfenheit weitgehend ausgespart. Brand, der sich von der
geistigen Radikalität Duchamps beeindruckt zeigt, fügt in seiner
Schachspielszene die Realität des Leibes in die geistige Welt des
Schachspiels ein. Mann und Frau sitzen nackt am Schachbrett. Mit dem
Selbstauslöser aufgenommene Fotos zeigen dichte und turbulente
Situationen aus Körpersilhouetten, Bewegungen, Verzerrungen,
Ubereinanderlagerungen. Das geistige Schachspiel wird mit banaler
Nacktheit konfrontiert. Die Einsicht ist einfach: am Anfang aller
Erfahrung steht der Körper, und auch die Denkspiele der Kunst bleiben
an diese Tatsache gebunden. In Anlehnung an Duchamps mechanische
Wahrnehmungsapparate hat Brand diese Fotos mit einer erfinderisch
manipulierten Kameratechnik aufgenommen. Verfremdungsabsicht und
zufällige Effekte greifen im Aufnahmeprozeß zwanglos ineinander. Das
Moment des Verwackelns, das den professionellen Fotografen zur
Verärgerung treibt, wird hier zur Methode und soll zu inhaltlicher
Zuspitzung führen. Ähnlich mancher Amateurfotografen und - filmer, die
in heimlichen Bildern ihre Nacktheit inszenieren, benutzt Brand die in
unserer Gesellschaft noch immer nicht selbstverständliche Einbeziehung
nackter Tatsachen, um diese dem intellektuellen Anspruch der
künstlerisch avantgardistischen Moderne gegenüberzustellen. Brand
sucht sein Thema in der Spannung zwischen körperlicher und geistiger
Erfahrung, und das bemüht sich schließlich auch um eine Korrektur
einer seit Duchamp vielfach überbewerteten Auffassung von moderner
Kunst. Warum aber lassen Künstler die künstlerischen Autoritäten nicht
einfach links liegen und schaffen aus der täglich gelebten Erfahrung
heraus ihren eigenen Kram? Es geht offenbar von Kindesbeinen an,
künstlerisch und auch sonstwie, nicht ohne Anlehnungspunkte. So
verweigert Brand den Umgang mit Vorbildern nicht; allerdings betont
er, daß man Vorbilder nicht kopieren solle. Man holt niemanden ein,
indem man ihn nachahmt, formulierte in diesen Tagen der Manager eines
Automobilkonzerns. Abgesehen von der Fraglichkeit der Maxime des
Einholens, gibt es in der Tat berechtigte Einwände an der menschlichen
Haltung in bedenkenloser Folgsamkeit anderen Menschen
hinterherzukriechen wie Schafe dem Leithammel in der Herde. Das ist in
der Kunst nicht weniger fragwürdig wie im Leben. Brand sieht eine
Möglichkeit im Umgang mit den Vorbildern darin, die alten Motive zu
variieren und in neue Techniken zu überführen. Das folgt dem Vorbild
Duchamp insofern, als auch für ihn das Erfinden neuer Medien stets mit
dem Entdecken neuer Möglichkeiten einherging. Im Mittelpunkt der
Auseinandersetzung von Brand mit der Arbeit Duchamps steht daher der
Wechsel verschiedener Medien bei gleichbleibendem Motiv. Das heißt:
die Schachspielszene gibt es in Polaroids, schwarz-weißen Fotografien,
auf mit Farbe übermalten bzw. lasierten Fotos, als Farbdrucke,
Flüssigkeitskristallbilder und im Videotape. Die unterschiedlichen
Medien-Wirkungen stellen die grundsätzliche Frage nach der Eigenart
der jeweiligen Technik und provozieren so ihren Vergleich mit allen
anderen. Wo der Inhalt, will sagen das Motiv, sich gleich bleibt,
erweisen sich die Form und die Art der Präsentation als tragend für
die Wirkung. Kurz gesagt: Die Technik transportiert nicht nur Inhalte,
sondern sie macht den Inhalt. Es ist nicht gleichgültig, ob ein
nackter Körper auf einem elektronischen Bild oder auf dem Papier einer
Fotografie erscheint, so wie ein Unterschied zwischen einem
Schachspiel mit dem Computer und einem lebenden Menschen besteht.
Dabei ist unübersehbar: die neue elektronische Technik ist vorhanden
und wird nicht mehr verschwinden, und sie bietet viele kreative
Möglichkeiten. Aber das heißt nicht gleichzeitig, daß sie uns die
Dinge, die sie zeigt, näher bringt als die alten Medien. Mehr als die
abgebildeten Körper führen die neuen elektronischen Medien uns die
Möglichkeiten der technischen Apparatur selbst vor. Das mündet
schließlich wieder in eine Kopflastigkeit der Betrachtung, die diesmal
allerdings nicht intellektuell-logisch, sondern imaginär-träumerisch
geprägt ist. Im immateriellen Spiel der elektronischen Bilder
verflüchtigt sich der materielle Körper wie entweichendes Gas, wo er
sich bis dahin in Malerei und Photographie bereits ein gutes Stück bis
kilometerweit von uns entfernt hatte. Genau auf dieses Problemfeld
stößt der Vergleich der Medienwelten in den Arbeiten von Brand. Jemand
nennt Duchamp den wichtigsten Künstler seit der Höhlenmalerei, während
alles andere dazwischen nur Details sind. Duchamp war der erste, der
einen ganz gewöhnlichen, alltäglichen Gegenstand ausgestellt hat. Ein
Pissoir, ein Flaschentrockner - jeder Gegenstand kann seitdem im
entsprechenden Rahmen zum Kunstwerk werden. Anders gesagt: jedes
menschliche Produkt ist von der gleichen Intensität und Bedeutung, und
die Arbeiter, die einen Flaschentrockner herstellen, sind ebenso in
eine kreative Tätigkeit verwickelt wie die Künstler, die Bilder malen.
Kunst ist das, was man dazu macht: ein Bild oder das ganze Leben. Wo
die Tätigkeit der landläufigen Kunstauffassung den Dingen einen
gewissen Spielraum beläßt, legt der sonstige Alltag sie zweckmäßig
fest. Darin liegt der Unterschied zwischen Kunst und Alltag und das
Drama des Lebens. So zielt eine Forderung der Moderne dahin, daß die
Freiheit, welche die Künstler in und mit Bildern, Zeichnungen,
Plastiken, Objekten und dem eigenen Körper erfochten haben, ins Leben
hineinverwandelt wird, so daß Leben und Arbeit, Kunst und Alltag näher
aneinander heranrücken. Utopien lassen sich leicht formulieren; die
Schwierigkeit ihrer Umsetzung liegt darin, daß auch den Künstlern
heutzutage nichts Besseres einfällt, als ihre Bilder zu verkaufen um
am Leben zu bleiben.
Textauszug aus dem Katalog zur Ausstellung After Duchamp • Teilnahme
Axel Brand,
Galerie 1900-2000, Paris, Rue Bonaparte
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