Über Natur in den neuen Bildern von Tanja Vetter





 Ein berühmter Maler des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts
äußerte einmal den folgenden Ratschlag:



?Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht,
sondern auch was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so
unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht."





 Vielleicht kennen sie das Zitat. Es stammt von Caspar David
Friedrich, dessen einsame Menschengestalten in weiter sublimer Landschaft Ihnen
vertraut sind. Der Künstler wendet sich damit gegen eine Malerei, für die bloß
der Augenschein, die Oberfläche der Dinge zählt, zugunsten einer visionären
Kunstauffassung. In der Malerei, sofern sie den Namen Kunst verdient, berühren sich Außen- und Innenwelt, denn, wie ein
Zeitgenosse Friedrichs, der Dichterphilosoph Novalis einmal schrieb,



?der Sitz der Seele ist dort wo, sich Innen- und Außenwelt
berühren.?





 In den neuen Bildern von Tanja Vetter vollzieht sich eine
ebensolche Berührung. Die Künstlerin gibt sich nicht damit zufrieden, Natur
abzubilden. Ihre Landschaften existieren allein als Malerei. Gemalte Natur
dient hier nicht als bequemer Ersatz für eine reale Naturerfahrung, keineswegs
soll der Gang durch die Galerie eine Alpenwanderung entbehrlich machen. Fern
von Postkartenidyllen, vollzieht sich Natur im Malprozess.





 Das malerische Repertoire reicht von impressionistischen
Pinselstrichen bis hin zu getröpfelter und gekonnt verlaufender Ölfarbe. Immer
wieder wird der Tiefenraum durch die hohe sinnliche Präsenz nichtillusionistisch
eingesetzter Farbverläufe durchbrochen, die in manchen Bildern wie moosartige
Belege wirken können.





 Schwarze oder silbrig glänzende Flächen wirken nicht etwa
monoton; Sie werden durch Binnenstrukturen gebrochen und tragen zur
Bildatmosphäre bei. Kühle Akzente in grau und silber werden von warmen Primärfarben
kontrastiert. Vor dem Hintergrund einer winterlich anmutenden Farblandschaft
entfalten diesen Partien in rot oder grün eine besonders intensive Wirkung.
Natur lebt von Gegensätzen.





 Anders als in der traditionellen Landschaftsmalerei wird
Natur nicht im eigentlichen Sinn dargestellt,
Leben nicht imitiert, vielmehr begegnet uns das Bild selbst als lebendiger
Organismus. Seelisches wird in der Kunst dort zu Leben erweckt, wo sich, analog
zu dem zitierten Ausspruch von Novalis, Außen- und Innenwelt begegnen, wo
erinnerte Fragmente gesehener, erlebter, erfahrener Natur in einem sensiblen
schöpferischen Prozess auf der Leinwand zu neuer Wirklichkeit finden. Aus
erinnerter Natur wird, mit den Mitteln der Farbe, ein neuer Erlebnisraum
gebildet.





 Wer das Werk von Tanja Vetter während der letzten fünf Jahre,
seit ihrem Abschluss an der Freien Kunstakademie Mannheim in 2002, regelmäßig
verfolgt hat, wurde von mancher Wendung überrascht. Ihre Bilder pendelten
zwischen einer am Informel geschulten abstrakten Auffassung bis hin zu
realistischer, oft durch ironische Elemente gebrochener Malerei.





 In ihren neuen Bildern ist es Tanja Vetter gelungen, diese
Pendelbewegung zugunsten einer gegenseitigen Durchdringung gegenständlicher und
abstrakter Elemente abzulösen. Nun ist es unser Blick, der Blick des
Betrachters, der, über das Gemälde schweifend, Eindrücke aufnimmt, die sich auf
verschiedenen Ebenen des Wiedererkennens abspielen: Landschaftsräume,
monochrome Farbflächen, Farbspritzer, Oberflächenstrukturen, die sich doch zu
einem organischen Bildganzen verbinden.





 Durch diese Vielfalt des Erkennens und Entdeckens entsteht
ein eigentümlicher Reiz des Betrachtens. Scheinbar abgegriffene und für
künstlerische Zwecke untaugliche Motive gewinnen überraschend neue
Bildwürdigkeit. Hirsche und andere Tiere, vor ein dekoratives Stoffmuster
gesetzt oder kraftvoll mit expressiver Geste übermalt, kommen hier keineswegs
einem bloß sentimentalen Bedürfnis entgegen, das wir gerne distanziert als
Kitsch abtun. Gleichwohl handelt es sich ebenso wenig um eine bloße Veralberung
des schlechten Geschmacks.





 Tanja Vetters Tierdarstellungen enthalten durchaus einen
subtilen ironischen Hinweis auf die verpönte Tiermalerei; Ihr eigentliches
Anliegen jedoch ist die Neuentdeckung und -erfahrbarmachung naturhafter Motive,
die durch eine erstarrte künstlerische Tradition bereits jeglichen
künstlerischen Potentials entledigt schienen. Ein Tier kann, wie alles
naturhafte, niemals kitschig sein. Kitsch ist ein Problem der Wahrnehmung, ein
kulturelles Phänomen. Es ist die malerische Qualität der Naturmalereien von
Tanja Vetter, die sie vor einem Abgleiten in Sentimentalität bewahrt.





 Wenn Tanja Vetter Ironie einsetzt, dann geschieht dies nie
auf jene zynische, intellektuelle Überlegenheit zur Schau stellende Weise, wie
man sie allzuhäufig in Feuilletons und essayistischer Kunstkritik findet.
Ironie ist, wie in den dichterischen Werken der Romantiker, ein Mittel, das
Gesehenes und Erfahrenes in Perspektive setzt.





 Wie in Thomas Manns Ideal einer ?erotischen Ironie? bedeutet
dies bei Tanja Vetter, dass der Künstler das Objekt liebt, welches er
ironisiert. Ironisierung bedeutet hier nicht Bloßstellung, sondern sympatisierende
Darstellung bei gleichzeitiger Raum schaffender Distanz. Liebe und Distanz zum
dargestellten Motiv, zu den Berg- und Seelandschaften mit ihrer Tier- und
Pflanzenwelt, sind gleichermaßen notwendig, um Natur in der Malerei nicht abzukupfern
sondern neu erstehen zu lassen.





 Natur erfindet sich gleichsam neu, durchbricht zum Klischee
erstarrte Bildtraditionen. Es ist das Privileg des Künstlers, unseren Blick auf
die Natur immer wieder neu zu schärfen, damit Natur nicht als Stereotyp,
sondern als lebendiger Geist erfahren werden kann.





Ein uralter Streit in der philosophischen Ästhetik dreht
sich um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kunstschönheit und
Naturschönheit. Die Malerei von Tanja Vetter versucht weder der Naturschönheit
nachzueifern, noch sie übertreffen.





 Diese Bilder zielen auf eine Schärfung unseres Blicks, sowie
auf eine Verfeinerung unserer Empfindsamkeit für die Sinnlichkeit naturhaft
anmutender Formspiele und Farbklänge. Vielleicht werden Sie bei ihrer nächsten
Alpenwanderung verwundert feststellen, wie sich Ihr Blick auf die Natur
gewandelt hat, und werden sich überrascht fragen, ob dieser veränderte Blick
vielleicht von Tanja Vetters Naturbildern bewirkt wurde.



Martin Weyers,
geb. in Wuppertal. Freier Künstler seit 2003. Dozent an der Freien
Kunstakademie Mannheim. Mitarbeiter der Joseph Campbell Foundation,
Kalifornien. www.martinweyers.com








Die Beschreibung bleibt bei der Oberfläche, die Interpretation kann
in die Tiefe dringen, aber die Tiefe ist unauslotbar, weil die
verwendeten Codes Bestandteile eines poetischen Vokabulars sind - und
die poetischen Metaphern sind bekanntlich nie eindeutig. So ist jedes
der Gemälde Tanja Vetters als ein Schnittpunkt zu verstehen, in dem
das Rationale und Intuitive, das Einheimische und Exotische,
Objektmäßiges und Subjektgebundenes, Archetypisches und Privates,
Ornamentales und Fundamentales aufeinandertreffen. Diese
Bilderschrift ist grenzenlos: sie kann sich nach allen Richtungen hin
entwickeln, ausweiten und fortsetzen wie eine endlose Geschichte.
Es handelt sich um eine Malerei des Vollzugs. Dabei verweigern die
Arbeiten dem Betrachter die Bildanekdote und stellen ihr den Ausdruck
durch die Form gegenüber. Sogar in dem Zyklus mit Kindermotiven
bleibt wenig vom Bildinhalt übrig, so dass weder die Örlichkeit noch
die Personen, noch deren Tätigkeiten eindeutig bestimmbar sind. Die
Figuren sind existent und zugleich merkwürdig zurückgenommen in ihrer
Existenz. Sie verschmelzen mit den ornamentalen Mustern des
Bildgrundes und werden dadurch weitgehend entrealisiert. Von dem
Umraum geht nichts Drohendes aus, in seiner Abgeschlossenheit gegen
die Aussenwelt scheint er vielmehr die Personen zu beschützen, ohne
dass ein Gefühl der Beengung oder des Bedrückenden aufkommt.
Dieses Streben, den Bildraum auf die Fläche zu beziehen oder ihr sogar
unterzuordnen, wird erreicht durch die einheitliche ornamentale Be-
handlung von Rückwand und Boden, die das Hinten und das Vorne zusam-
menschliesst und dem Tiefenzug der Gegenstände entgegenwirkt, so dass
an manchen Stellen der Eindruck entsteht, Hintergrund, Figur und Raum
lägen in einer Ebene. Verunklärt wird durch diese Verwendung des Orna-
mentalen der Raum oder umgekehrt: das Ornamentale hilft der Malerin,
Raum in der Fläche darzustellen. Folglich setzt Tanja Vetter das Orna-
mentale nicht nur bei den Objekten ein, die selbst bereits Objekt-
träger sind, sondern sie fügt an allen noch nicht gefüllten Stellen
ornamentale Muster ein, ohne dass diese eindeutig gegenständlich er-
klärbar sind. Das Prinzip der Reihung verzichtet bewusst auf ein
Zentrum: von Rand zu Rand wird der Bildraum mit Zeichen, Emblemen,
Arabesken, floralen Mustern und Symbolen besetzt. In diesem puzzle-
ähnlichen Bildaufbau finden sich regelmässig Zeichen, die sowohl auf
real Gesehenes verweisen können als auch rein assoziativ einen wider-
sprüchlichen Kommentar zum Abgebildeten darstellen können. Zur mehr
skripturalen Gestaltung gesellen sich ornamentale Muster, farbige
Ornamente, lasierende Farbfelder oder prämorphe Zufallsformen. Hier
zeigt die Künstlerin Malbravour, reflektiert oder zitiert mehr oder
weniger direkt die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts (Farbfeld-
malerei, die Pattern & Decoration Art, die aleatorischen Spuren des
Informel).
Eine zusätzliche Semantisierung erfährt die Auseinandersetzung mit dem
malerischen Raum durch die Technik der Transparenzmalerei. Die Malerin
schichtet bildnerische Motive verschiedener Herkunft übereinander und
gelangt zu irritierenden Raumbildungen, in denen buldnerisches Ge-
schehen und transparente Oberfläche eigentümlich widerstreiten.

Werner Marx,
Freier Mitarbeiter der Kunsthalle Mannheim